Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, diesen Blog-Artikel zu schreiben. Ein Bedürfnis - fast schon eine Pflicht. Als Achtsamkeitslehrer habe ich das Privileg, den Menschen oft Entspannung und Erleichterung zu bringen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Achtsamkeit ist keine Entspannungsübung oder gar eine Technik, um sich von Problemen fernzuhalten. Und wenn Du jetzt noch glaubst Achtsamkeitslehrer hätten selber alles im Griff, dann muss ich dich auch dieser Illusion berauben. Achtsamkeit ist viel mehr eine Lebenshaltung, sogar eine Lebenskunst. Sie ist uralt und uns von Natur gegeben. Wir verlernen sie nur allzu gerne. Es ist eine heilsame Geisteshaltung, in der die angenehmen Dinge wie Glück, Schönheit und Freude genau so ihren Platz haben wie die unangenehmen, wie Angst, Frust oder Abneigung. Und genau um solche unliebsamen Dinge und den Zeitgeist soll es auch hier gehen. Aber keine Angst - es gibt auch Hoffnung und sogar Aussicht aus Heilung. Also faag nur an zu lesen, wenn du wirklich die Zeit und Geduld hast bis zum Schluss zu lesen :)
Björn,... ich bekomme nicht richtig Luft
Heute habe ich ein Gespräch mit einer Kollegin geführt, die zu mir sagte: "Björn, ich habe das Gefühl... Ich bekomme nicht richtig Luft. Weißt Du irgendwie schnürt sich alles so zusammen." Ich spürte gleich, dass diese Kollegin mir kein physiologische Phänomen schildert, sondern, dass es hierbei um etwas tieferliegendes geht. Wir sprachen über körperliche Distanz und virtuelle Nähe, über Schutzmaßnahmen, Verhaltensregeln und über Unsicherheit und Nicht-Wissen. Ja es ging um Corona, Covid-19, SARS-Cov2, aber nicht nur. Es ging vielmehr um diese Ohnmacht und das Gefühl keinen Raum zu haben, um Atem zu bekommen. "I can't breathe!" Spontan kamen diese Worte aus mir heraus. Die letzten Worte von George Floyd und dann Slogan der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter, können kaum den Zeitgeist besser beschreiben. Aber es ist nicht der Würgegriff oder der Virus der uns den Atem raubt, sondern es ist der Verlust an Kontrolle, Kontakt und dem Hoffnung auf Besserung. "Wie lange soll es noch dauern und wie wird es dann sein?" Diese Frage lässt uns verkrampfen. Wir ziehen uns innen in das Häuschen zurück. Und möchten am liebsten alles wegschließen, was da ist. In eine kleine Büchse. Nicht mehr hinsehen. Blackout.
Atmen - jetzt erst recht
Gestern habe ich eine Yogastunde gegeben, in der ich die Teilnehmer immer wieder und immer wieder daran erinnert haben bewusst zu atmen, ihren Atem zu spüren und in Kontakt zu bleiben. Nicht ohne Grund. "Breathe!"
Der Atem ist unser ständiger Begleiter. Vom ersten Atemzug, welcher auch unser tiefster ist. Bis zum letzten Hauch unseres letzten Augenblicks. Der Atem ist Ausdruck unserer Lebendigkeit. Er ist da auch wenn wir ihn nicht bemerken. Wer nicht richtig atmet lebt nicht richtig. Wer nicht richtig und unbeschwert atmen kann wird krank.
Ein Freund erzählte mir, dass er seit kurzem Schlafapnoehat - spontane Atemaussetzer im Schlaf. Und dass er es nicht mehr versteht, wieso er seinem gesunden Bruder, der in Köln einem sogenannten Coron-Hot-Spot lebt nicht beim Umzug helfen darf und seinen Kollegen nicht mehr ohne Maske auf der Arbeit begegnen darf. Er fühle sich machtlos und unverstanden. Als wäre er es der sagte: "I can't breathe!"
Ein Teilnehmer vom Yoga meinte beim Herausgehn zu mir, das Yoga und die Atmung wäre toll, wegen der Aktivität, aber Meditation wäre nichts für ihn, wegen der Stille. Ich sagte zu ihm Yoga sei Meditation - nur in Bewegung. Dann war er fort. Genauso eine Kollegin, die meinte, sie erträgt die Stille nicht und können nicht an meinem Kurs "Training Achtsamkeit am Arbeitsplatz" teilnehmen. Mir scheint es, dass viele es nicht ertragen können, in die Stille zu kommen und ihnen das Vermögen fehlt, richtig tief durchzuatmen. Als würde sich die Büchse in der wir alles weggeschlossen haben sodann als Büchse der Pandora entpuppen, die wir dann öffneten.
Es ist als wäre das "Nicht-Atmen-Können" und die daraus resultierende Unruhe unser kollektives Karma. Es holt uns etwas ein, was sich aus unserem Unvermögen, sich um uns selbst zu kümmern entwickelt hat.
Atme mein Liebling
Richtig atmen heißt den Kontakt zwischen Körper und Geist herzustellen. Das Gleichgewicht zu finden und herzustellen. Und in Verbindung zu kommen. Das ist die Bedeutung von Yoga "in Verbindung zu sein". In meinem Blog-Artikel über Herzatmung schreibe ich, warum es so heilsam ist, tief und befreit zu atmen. Der Atmen ist Taktgeber unseres Lebens. An ihm könnenwir nicht nur erkennen, wie wir innerlich ticken. Er stimuliert auch unser autonomes Nervensystem. Atmen wir tief und lang, dann fördern wir den Parasympathikus und unser Körper kommt in die Ruhe. Das Herz kommt in Kohärenz und synchronisiert sich mit dem Gehirn. Das Resultat ist (ja du liest jetz richtig): das Herz sagt dem Gehirn (nein ich habe es nicht vertauscht), dass alles in Ordnung ist! 40000 Neuriten, spezielle Nervenzellen, steigen vom Herz zum Gehirn auf, herabsteigend sind es nur 10000. Das Herz kann dem Gehirn offenbar erzählen, wie es um unseren Zustand steht. Und das alles weil wir atmen - tief, langsam und frei.
Ich möchte an dich appelieren, die Stille zu finden, egal ob im Sitzen, im Gehen oder auch in der Yogapraxis oder beim Kochen. Was wäre, wenn wir bei all dem "Nicht-Atmen-Können" wieder oder auch erstmalig die Praxis finden, tief und heilsam zu atmen und den Atmen zu spüren. Lernen wir unsere individuelle Büchse der Pandora zu öffnen, auf den Wunden Punkt zu blicken und zu erkennen, was uns gerade im Würgegriff hält, der uns nicht atmen lässt. Lernen wir achtsam zu sein und das nötig Mitgefühl für die Mitmenschen, Mitgeschöpfe und uns selbst zu entwickeln. Und lernen wir endlich zu atmen... um eines Tages befreit uns innerlich zuzurufen:
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